Interview mit Miriam Lexmann, Mitglied des Europäischen Parlaments (EVP-Fraktion, Christdemokratische Bewegung, Slowakei) und insbesondere des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten, zum EU-Behindertenausweis

Wir bedanken uns bei der Europaabgeordneten Lexmann und ihrem Team für die Mitarbeit an diesem Newsletter.

1. Ihr Land, die Slowakei, gehört nicht zu den acht Ländern, die an dem Pilotprojekt teilgenommen haben. Sind Sie sich dennoch des Interesses am Ausweis in Ihrem Land bewusst, sei es bei politischen Entscheidungsträgern oder in der Zivilgesellschaft? Falls ja, welche Hoffnungen oder Erwartungen werden von slowakischen Bürgern mit Behinderungen in Bezug auf den Ausweis geäußert?

Ich persönlich finde es bedauerlich, dass trotz vieler Aufforderungen an die slowakische Regierung, dem Pilotprojekt beizutreten, die Slowakei weder die Gelegenheit genutzt hat, es von Anfang an mitzuinitiieren, noch die Gelegenheit, in der späteren Phase beizutreten, was nach meinen Informationen noch möglich gewesen wäre. Durch ihre Untätigkeit hat die Slowakei eine einmalige Chance verpasst, mit finanzieller Hilfe der EU die Auswirkungen dieser Initiative zu untersuchen, obwohl ich weiß, dass einige Politiker (z.B. meine Freundin, die ehemalige Europaabgeordnete Jana Žit?anská, da ich zu diesem Zeitpunkt nicht in der Politik aktiv war) oder NGOs, die sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen einsetzen, extreme Anstrengungen unternommen haben, um die slowakische Regierung zu motivieren, das Pilotprojekt in unserem Land zu starten. Und das trotz klarer Signale slowakischer Bürger mit Behinderungen, die vom Europäischen Behindertenausweis begeistert waren. Seit ich in das aktive politische Leben eingetreten bin, war dieses Thema bei meinen Kontakten nicht wirklich präsent, da die Slowakei kein Teil des Pilotprojekts war, aber ich glaube, dass es jetzt mit der Veröffentlichung der neuen Strategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen wieder ins Rampenlicht gerückt wird, und ich werde versuchen, darüber zu kommunizieren und auch unsere Regierung aufzufordern, angemessene Schritte zur Vorbereitung auf eine zeitnahe Umsetzung zu unternehmen.

2. In ihrer Strategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen gibt die Kommission an, bis Ende 2023 einen Vorschlag für einen EU-weit gültigen Ausweis einbringen zu wollen, nennt aber keine Details. Was denken Sie als Europaabgeordnete, die sich aktiv mit ähnlichen Themen beschäftigt?

Zunächst einmal bin ich froh, dass diese Initiative nach mehr als einem Jahrzehnt endlich auf die Tagesordnung kommt. Berücksichtigt man jedoch die ersten Kampagnen im Jahr 2010, das Pilotprojekt in den Jahren 2016 bis 2018 und den Evaluierungszeitraum ab 2019, dauert diese Initiative meiner Meinung nach zu lange und hätte schon früher auf den Weg gebracht werden können, da sie die Freizügigkeit verbessert, die schließlich eines der Grundprinzipien der EU-Verträge ist. Daher verstehe ich nicht, warum Menschen mit Behinderungen so lange warten sollten, um diese Freiheit vollständig und gleichberechtigt zu genießen. Ich finde, dass dies im Widerspruch zu unseren Verpflichtungen steht, die wir durch die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen eingegangen sind.

Ich denke auch, dass die Kommission offener über ihre Pläne zu dieser Initiative kommunizieren sollte, da ich glaube, dass Politiker, NGOs oder sogar Regierungen daran interessiert wären, aktiv zu den Vorbereitungen beizutragen. Eine klare Kommunikation würde helfen, die Bürger darüber zu informieren, was sie erwarten können und inwieweit diese Initiative ihr Leben in Bezug auf Reisen, Kultur und Sport vereinfachen wird.

3. Was, Ihrer Ansicht nach, sollte der künftige Ausweis über den erweiterten geografischen Geltungsbereich hinaus insbesondere noch bieten, um sinnvolle Fortschritte bei der Erleichterung der Freizügigkeit von Menschen mit Behinderungen zu erzielen?

Wenn wir uns das Pilotprojekt anschauen, stellen wir fest, dass es eine gute erste Phase war, um herauszufinden, was möglicherweise funktionieren könnte. Ich denke und hoffe jedoch, dass die Kommission dieselben Schlussfolgerungen ziehen wird, nämlich dass vieles überdacht und noch verbessert werden muss, bevor der Behindertenausweis auf EU-Ebene eingeführt wird. Erstens, wenn es unser Ziel ist, einen gleichberechtigten Zugang zu Kultur, Freizeit und Reisen zu erreichen, sollten wir einen Mindeststandard für Dienstleistungen festlegen, die in den Geltungsbereich des Ausweises fallen. Denn wenn wir dem Muster folgen, das im Rahmen des Pilotprojekts festgelegt wurde, also der Freiwilligkeit der Dienstleistungsanbieter, sich dem Projekt anzuschließen oder nicht, werden einige Länder eine breite Palette von Dienstleistungen oder Ermäßigungen für Ausweisinhaber anbieten, während andere nur sehr begrenzte oder gar keine Angebote haben werden. Zweitens müssen wir sicherstellen, dass die Ausweise einheitlich sind und sie die Menschen nicht nach nationalen Standards oder nationaler Auswahl kategorisieren, wie es im Pilotprojekt mit zwei verschiedenen Ausweistypen mit unterschiedlichen Angeboten der Fall war.

4. Das Pilotprojekt lief unter der Prämisse, dass die Mitgliedstaaten den Behindertenstatus von Ausweisinhabern untereinander anerkennen. Denken Sie, dass dies der richtige Ansatz ist?

Ich denke, dass dieser Ansatz die entscheidende Voraussetzung dafür ist, dass Menschen mit Behinderungen das volle Potenzial der Freizügigkeit in den Mitgliedstaaten genießen können. Ich persönlich glaube, dass, wenn der Behindertenstatus gemäß den nationalen Vorschriften anerkannt ist, diese Tatsache beim Grenzübertritt nicht in Frage gestellt werden sollte. Dies ist im Hinblick auf das breite Spektrum von Behinderungen besonders wichtig, da viele von ihnen nicht sichtbar sind, und niemand sollte gezwungen sein, beim Betreten von Kultur- oder Sportstätten in anderen Mitgliedsstaaten sensible Angaben zum Gesundheitszustand zu machen.

5. Die EU-Rechtsvorschriften zur Koordinierung von Systemen der sozialen Sicherheit sehen weder die gegenseitige Anerkennung einer Invalidität noch des Invaliditätsgrads vor, es sei denn, es besteht eine feststehende Übereinstimmung zwischen den nationalen Rechtsvorschriften über die Bedingungen für ihre Festlegung. Denken Sie, dass der Behindertenausweis diese Lücke schließen sollte?

Leider ist dieser Bereich sehr unklar, und obwohl einige Aspekte bereits durch die Verordnung über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit abgedeckt sind, herrscht immer noch Verwirrung über die Übertragbarkeit aller Rechte, die mit dem offiziell anerkannten Behindertenstatus verbunden sind. Es ist jedoch sehr wichtig, rechtliche Klarheit und Sicherheit über die eigenen Rechte zu haben, wenn man die Freizügigkeit in der EU nutzt, und deshalb fordere ich nachdrücklich, klare Regeln aufzustellen. Ich denke, dass der Behindertenausweis, wenn er ordnungsgemäß und gleichmäßig in allen Mitgliedsstaaten umgesetzt wird, diese Lücke schließen könnte. Der Schlüsselaspekt ist hier die Umsetzung, Überwachung und Evaluierung. Eine wichtige Bemerkung möchte ich noch anfügen. Obwohl der Europäische Behindertenausweis nichts an den nationalen Berechtigungskriterien zur Anerkennung des Behindertenstatus ihrer Bürger ändert, sollten die Mitgliedsstaaten die besten Praktiken austauschen und ihre nationalen Systeme kritisch überprüfen, damit sie offen und flexibel sind und Menschen mit Behinderungen keine unnötigen Verwaltungslasten auferlegt werden, wenn sie versuchen, ihren Status offiziell anerkennen zu lassen.

6. Die Kommission erwägt eine Verknüpfung mit dem Europäischen Behindertenparkausweis. Halten Sie dies für eine gute Idee?

Lösungen sollten einfach sein. Die Verschmelzung von zwei Ausweisen zu einem, vorausgesetzt, sie decken ein breiteres Spektrum an Bereichen ab, von der Anerkennung des Behindertenstatus bis zum Zugang zu Dienstleistungen, könnte Verfahren und das Reisen für Menschen mit Behinderungen erheblich vereinfachen. Ein einheitliches Ausweisformat kann grenzübergreifend denselben Zugang zu Leistungen sicherstellen, und es wird auch einfacher für sie sein, da sie sich nicht um zwei verschiedene Dokumente bemühen, sondern lediglich eines vorzeigen müssen. Ich verstehe, dass nicht jeder zur Nutzung des Parkausweises für Menschen mit eingeschränkter Mobilität berechtigt ist, aber ich glaube, dass wir mit den aktuellen digitalen Werkzeugen den Ausweis immer so gestalten können, dass er ein harmonisiertes und anerkanntes Zertifikat darstellt, das verschiedene Möglichkeiten beinhaltet, und durch einfaches Scannen eines Codes oder mittels eines anderen digitalen Werkzeugs wird es einfach sein zu überprüfen, welche Vorteile eine bestimmte Person genießen darf. Wenn wir schon diese digitalen Möglichkeiten haben, sollten wir sie zum Wohle aller nutzen, natürlich mit allen Sicherheitsvorkehrungen, die mit dem Schutz der Privatsphäre und von persönlichen Nutzerdaten einhergehen.